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#ONLIFE

"Chaos wird schlimmer"

Quelle: jungagiert e.V.

Florentina, 28 Jahre

#neugierig #reisen #schreiben

Im Interview spricht der Blogger und Buchautor Michael Seemann darüber, wie und warum wir im Internet die Kontrolle verlieren müssen und wer davon profitiert.

Wie viel Zeit verbringen Sie täglich im Netz, und womit?

Ich habe immer mein Smartphone dabei, das mit dem Internet verbunden ist, also richtig offline bin ich eigentlich nur, wenn ich kein Netz habe. Addiert man die Zeit auf, die ich aktiv im Internet bin, sind das sicherlich neun bis zehn Stunden pro Tag. Ich lese dort Artikel, recherchiere und beantworte Nachrichten.

In der Beschreibung Ihres Projekts „ctrl+verlust“ (http://www.ctrl-verlust.net/uber-dieses-blog/) heißt es: „Dieser Blog erzählt von den diversen Kontrollverlusten im digitalen Raum und warum sich das lohnt.“ – Wo verlieren Sie täglich die Kontrolle?

Im Endeffekt beginnt der Kontrollverlust ja schon, wenn ich irgendwas im Internet veröffentliche. Das Veröffentlichen ist also eine Schwelle, nach deren Übertreten ich den Kontrollverlust akzeptieren muss. Denn andere Leute können meine Veröffentlichungen aufnehmen und damit etwas anstellen, das ich nicht kontrollieren kann. Aber tatsächlich verläuft dieser Prozess meistens positiv: Informationen von mir werden dankbar aufgenommen und weiterverbreitet.

Würden Sie sagen wir werden nachlässiger mit den Daten, die wir online teilen?

Wir haben die letzten zehn Jahre gesehen, dass immer mehr Leute ins Internet gegangen sind und immer mehr Daten veröffentlicht haben. Das passiert immer noch. Allerdings gibt es auch ein verstärktes Bewusstsein darüber, dass es Leute im Internet gibt, die Informationen und Dateien absaugen, um eigene Vorteile zu haben. Ein Beispiel dafür ist der Bereich Online-Werbung. Doch obwohl es dazu eine Debatte gibt, habe ich nicht das Gefühl, dass sie zu veränderten Handlungen führt. Die Leute reden gerne darüber, wie schlimm es ist, ihre Daten aus der Hand zu geben, aber eigentlich tun sie nichts dagegen.

Für wen kann es gefährlich werden, wenn Daten unkontrollierbar im Netz umherwabern?

Brenzlig kann es zum Beispiel werden für Menschen, die in einer hohen politischen Position sind. Wenn Dinge rauskommen, die ihrem Image schaden, kann das zum Karriereende führen. Im Endeffekt besteht Gefahr durch Kontrollverlust für jeden, der nicht frei ist zu tun, was er will, weil er bestimmten Erwartungen entsprechen muss.

Wer  sind die Gewinner des digitalen Kontrollverlusts?

Das lässt sich noch nicht sagen. Gewinner sind erst mal die Betreiber von Plattformen wie Google. Man kommt ja kaum mehr ohne aus. Auch die Zivilgesellschaft hat momentan sehr viel mehr Möglichkeiten, als sie noch vor ein bis zwei Jahrzehnten hatte –  sich zu organisieren, politisch aktiv zu werden, Einfluss zu nehmen. Momentan wirkt sich das in meinen Augen überwiegend positiv aus, aber ich würde nicht darauf wetten, dass das so bleibt. Pegida beispielsweise war am Anfang ja eine Facebook-Gruppe. Die Organisationsmöglichkeiten werden also auch von denen benutzt, die man nicht so gerne am langen Hebel sehen möchte. Ich habe auch das Gefühl, dass in diesem Umbruch eine Menge Ordnungs-Institutionen zu Bruch gehen werden und daraufhin Chaos einzieht.

Hätten Sie ein paar Beispiele parat?

Wir sehen das in vielen Bereichen: Wikipedia hat die Lexika-Unternehmen in die Pleite getrieben, Google mit Maps die Kartendienstleister, und nimmt nun zunehmend auch die Newsportale ins Visier. Dazu macht sich Uber gerade über das Taxigewerbe her und Airbnb über die Hotelbranche.

Und warum führt das zu Chaos?

Chaos entsteht, weil die Informationen immer freier fließen, ohne dass es genug Institutionen gibt, die sie regulieren können. Fremdenfeindliche Postings auf Facebook sind ein Beispiel dafür. So verändert sich gerade überall sehr viel und der Staat und seine Institutionen sind mit diesen Veränderungen ständig überfordert. Das Chaos wird anhalten beziehungsweise schlimmer werden, bis es neue Institutionen gibt, die mit dem Kontrollverlust besser umgehen können.

Kann ich irgendetwas tun?

Die wichtigste ist eigentlich relativ offensichtlich: Du kannst nicht gegen jeden Kontrollverlust gewinnen. Das heißt: Scheitern werden Strategien, die darauf ausgelegt sind, den Kontrollverlust aufzuhalten oder ihn zu regulieren. Der Kontrollverlust ist eine Tatsache, die man in seiner Strategie einberechnen muss.

Über Michael Seemann:

Michael Seemann studierte Angewandte Kulturwissenschaft und ist seit 2005 mit verschiedenen Projekten im Internet aktiv. 2010 begann der 38-Jährige mit dem Online-Blog „ctrl+verlust“, in dem er über den Verlust der Kontrolle über die Daten im Internet schreibt. Zu diesem Thema veröffentlichte er vier Jahre später ein Buch mit dem Titel „Das Neue Spiel. Strategien für die Welt nach dem digitalen Kontrollverlust“. Heute ist Seemann als freier Journalist tätig und hält Vorträge zu verschiedenen Themenbereichen des Internets.

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