Ein Gespräch über Grenzen und darüber, wie sie sich finden lassen
Sexuelle Übergriffe passieren nicht zufällig, häufig aber unbeabsichtigt, so Beate Martin, Sexualpädagogin bei pro familia. Sie und ihre Kolleg*innen begleiten Projekte in Kinder- und Jugendeinrichtungen sowie an Schulen zum Thema Sexualität, Aufklärung und sexueller Bildung. Hier erklärt sie, was sie dabei vermitteln will.
Quelle: privatBeate Martin
Ich sag mal, „so und so geht Grenzen einhalten“ gibt es nicht. Kinder und Jugendliche lernen über das Tun, über Erfahrungen. Für uns ist sehr wichtig, dass wir am Anfang Grenzen klären und besprechen und dass die Kinder und Jugendlichen eine Orientierung bekommen. Dazu gehört „Fragenstellen erlaubt“ ‚“Freiwilligkeit“, „nicht mitmachen erlaubt“ und „einander zuhören“. Wir achten dann sehr darauf, dass diese Regeln eingehalten werden. Für uns ist sehr wichtig, dass die Kinder und Jugendliche auch sagen können, dass sie bei etwas nicht mitmachen möchten. Für uns ist sexuelle Selbstbestimmung wichtig. Und auch wenn es einen großen Aufklärungsbedarf gibt, so gehört die Freiwilligkeit dazu, wenn es darum geht, sexuelle Selbstbestimmung zu lernen.
Es geht darum, dass wir versuchen, das Selbstwertgefühl und die Empathie sowie das eigene Körpergefühl zu stärken. Letzteres bedeutet, auf sich zu achten und in einer Situation zu spüren: „Habe ich jetzt ein ungutes Gefühl?“. Und zu versuchen, erst einmal zurückhaltend zu sein, um dann nicht doch etwas zu tun, bei dem sie sich noch nicht sicher sind, dass sie es möchten. Das ist eine große Herausforderung. Es gibt Kinder, die lernen sehr frühzeitig, dass ihre Grenzen gesehen und respektiert werden und können das dann auch gut anderen gegenüber äußern. Grundsätzlich gilt: Wenn jemand sagt, „ich möchte das nicht“ oder „komm mir nicht so nah“, dann ist das einzuhalten.
Wir müssen es akzeptieren, dass es aufgrund mangelnder Erfahrungen zu Grenzüberschreitungen kommen kann. Diese passieren im Jugendalter permanent. Grenzverletzungen sind nicht immer bewusst oder absichtlich. Und dann ist es wichtig, darüber vernünftig zu sprechen, damit beide Seiten Unterstützung bekommen, um ihr Verhalten verändern zu können. Das geht nicht immer von heute auf morgen, weil zu lernen, wie ich anderen begegnen kann, muss erprobt werden. Es ist niemals okay, die Grenzen von anderen absichtlich zu verletzen. Aber es braucht die Möglichkeit des Lernens. Bei wem im Elternhaus das Thema „Grenzen“ nicht vorkommt, ist benachteiligt und braucht womöglich mehr Zeit. Dennoch sind jegliche Formen von Grenzverletzungen zu besprechen, um eine Verhaltensveränderung herbeizuführen.
Ich würde immer mit Wohlfühlgefühl und Unwohlgefühl erklären. Wenn ich ein Kind frage „Willst du das mit mir spielen?“ und das Kind antwortet nicht, dann geht man meistens davon aus, dass das Zustimmung bedeutet. Das ist aber falsch. Wenn das Kind sich nicht äußert, heißt das erstmal „Ich weiß es noch nicht“. Und es ist damit erst mal ein Nein. Wir vermitteln Kindern und Jugendlichen, dass sie herausfinden sollen, was sie möchten und was nicht. Das ist nicht immer einfach. Oft ist es so, dass sie in eine bestimmte Situation geraten und noch gar nicht genau wissen, was sie darüber denken. Dann brauchen sie einfach Zeit, um zu überlegen. Und dieses Gefühl muss geschult werden.
Da sind die Übergänge natürlich fließend. Keiner kann von außen beurteilen, was im Kopf eines anderen vorgeht. Aber durch die Körperhaltung des Gegenübers oder durch konkrete Aussagen kann eine Situation durchaus eingeschätzt werden. Wenn deutlich gesagt wird „das möchte ich nicht“, dann ist das auf jeden Fall eine objektive Grenze. Egal, ob mein Gegenüber das versteht oder nicht. Auch wenn jemand zurückweicht, also durch körperliche, sichtbare Mimik und Gestik deutlich macht, hier ist eine Grenze, kann vom Gegenüber erwartet werden, dass dieses Signal respektvoll angenommen wird. Ich signalisiere damit eine klare Grenze, von der ich nicht möchte, dass diese überschritten wird.
Jede*r sollte sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass er oder sie für sich selbst entscheiden darf. Das heißt aber auch, dass jede*r die Verantwortung hat, eine Entscheidung mitzuteilen, damit das Gegenüber orientiert ist. Wenn zum Beispiel ein Mädchen einen Freund hat und sie vereinbaren, bald miteinander Sex zu haben, ihr dann aber Zweifel kommen, dann muss sie dieses ihrem Freund mitteilen, weil dieser „ihre Gedanken nicht lesen“ kann. Das bedeutet für dieses Beispiel, das Mädchen muss die Verantwortung für sich übernehmen und ihre veränderten Wünsche äußern. Auf der anderen Seite geht es auch darum, Empathie, also Einfühlungsvermögen für Andere zu entwickeln und zu lernen, Ausdrucksformen von ihnen wahrzunehmen und zu richtig zu deuten.
Gesetze versuchen oft, generelle Regeln zu setzen und das ist gut. Aber gleichzeitig unterscheidet sich jede Situation so sehr von der anderen, dass es oft schwierig ist, zu sagen wo bereits eine objektive Grenzverletzung stattgefunden hat. Der Gesetzesgeber schützt Kinder und Jugendliche besonders. Und diese gesetzlichen Grenzen sind immer einzuhalten, unabhängig davon, ob die Situation vielleicht etwas anderes hergeben würde. Es ist für die Jugendlichen wichtig, zu wissen, dass über 14-Jährige mit unter 14-Jährigen nicht sexuell verkehren dürfen. Aber dort beginnen dann unter anderem die fließenden Grenzen. Es gibt zum Beispiel 13-jährige Mädchen, die körperlich schon sehr reif sind. Wenn sie dann einen 14-jährigen Freund haben, machen sich beide keine Gedanken darüber, dass sie Probleme bekommen könnten, wenn sie sich körperlich näherkommen.
Ja, die meisten Grenzüberschreitungen unter Jugendlichen sind unabsichtliche. Das erklärt sich von selbst, weil beide Beteiligten oft gar keine oder wenig Erfahrung haben. Sie finden Sexualität interessant, wissen aber noch nicht, was genau sie mögen und erwarten und was nicht. Das muss ausprobiert werden. Dann kann es dazu kommen, dass erst hinterher bemerkt wird: „das hat mir aber gar nicht gefallen oder das habe ich mir anders vorgestellt.“ Der*die Partner*in hat etwas mit mir gemacht, was ich nicht wollte. Eine Einschätzung von unbekannten Situationen im Vorfeld ist schwierig. Diese wird meistens erst durch die Erfahrungen deutlich. Manchmal ist es deshalb sehr schwer, zu sagen, ob es sich um einen Übergriff gehandelt hat. Sexuelle Übergriffe werden von den Beteiligten sehr unterschiedlich empfunden. Eine äußerlich identische Situation kann bei den Beteiligten sehr unterschiedliche Gefühle und Grenzen berühren. Deshalb können in unseren Beratungen nur jeden Einzelfall anschauen und die individuellen Empfindungen herauskristallisieren. Bisweilen kann es auch zu falschen Anschuldigungen kommen, um jemanden bewusst zu schaden. Das sind aber eher die Ausnahmen.
Vor allem Kinder und Jugendlichen, die selbst nicht erfahren haben, dass ihre Grenzen gesehen und geachtet werden. Sie haben dadurch kein Gefühl für (eigene) Grenzen entwickelt. Zwar lassen sich Erfahrungen nachholen, aber das ist nicht einfach. Alles, was im Kindesalter gelernt wird, ist mit dem Körper und mit Emotionen dazu verbunden. Soziale Regeln werden nach und nach erworben. Wenn ein Kind weiß oder merkt, dass es etwas falsch gemacht hat, dann bekommt es ein schlechtes Gewissen. Aber Kinder, die nicht gelernt haben, was richtig oder falsch ist, entwickeln diese Gefühle nicht.
Eine weitere „Baustelle“ ist unter anderem das Thema Männlichkeit, weil viele Jungen Rollenkonflikten ausgesetzt sind. Einerseits wird gefordert, dass sie sich sozial erwünscht verhalten, gleichzeitig aber müssen sie ein gewisses Männlichkeitsbild erfüllen. Dabei wissen sie selten, was von ihnen erwartet wird und was „männlich“ ist. Insbesondere in der Pubertät, wo es so viele andere Herausforderungen gibt, die es zu bewältigen gilt. In dieser Phase ist es wichtig, ganz konkret zu besprechen, wie Grenzen erkannt werden. Wie geht das mit dem Akzeptieren? Und was ist zum Beispiel eine problematische Anmache?
Selbstverantwortung, Respekt und eine gute Kommunikation. Das heißt einander zuhören, aber auch miteinander streiten. Denn dadurch wird gelernt, das Grenzen verschieden sind und sich auch verändern können. Es geht hier um Respekt und um Solidarität. Schüler*innen sollten erkennen, wenn sich andere in einer hilflosen Situation befinden und sich dann nicht zurückziehen, sondern der Person zur Seite stehen. Wichtig ist auch die Fähigkeit zum Kompromiss und der Umgang mit Frustration: Mein Gegenüber möchte nicht immer das, was ich mir vorstelle, also muss ein Konsens oder Kompromiss gefunden werden, mit dem beide Beteiligten einverstanden sind.
pro familia ist die größte nichtstaatliche Organisation für Sexual-, Schwangerschafts- und Partnerschaftsberatung in Deutschland. Die Landesverbände betreiben ein großes Netz von Beratungsstellen über das gesamte Bundesgebiet verteilt. Mit „Sextra“ betreibt pro familia außerdem ein anonymes und kostenloses Online-Beratungsangebot, im Team arbeiten ca. 100 Berater*innen u.a. aus den Bereichen Beratung, Medizin und sexuelle Bildung. Hier geht’s zur Online-Beratung von Sextra.
Und dann gibt es noch „pro familia in action„, kurz pia, das junge Netzwerk des pro familia Bundesverbands. Mitmachen könnt ihr innerhalb von Ortsgruppen in mehreren Bundesländern.